reißen – paramyth 3
für Streichquartett
Clemens Gadenstätter
Reißen evoziert als onomatopoetisches Wort Klangvorstellungen. Reißen provoziert auch Bewegungsgesten, die wiederum in klanglichen Vorstellungen mündet. Wenn ich mir vorstelle, etwas abzureißen, einzureißen, aufzureißen lasse ich die die Vorstellung einer Geste entstehen, eine Klanges, einer Konsequenz dieser Tätigkeit auf etwas Drittes (zb. zerrissenes Papier) und auch die eventuelle Empfindung, die mit dem reißen verbunden sein kann (ausreißen von Haaren, wenn man ein Wundpflaster abzieht, lässt mich den Schmerz vorstellend mitempfinden und meine stimmliche Reaktionen mir vorgestellt präsent werden, ein kleines zuckendes Einatmen, einen kleiner Schrei eventuell).
Diese alltägliche Erfahrung ist Motor und Ausgangspunkt für die Klangarbeit im dritten Streichquartett der paramyth – Reihe (das erste Quartett war der Vorstellung des Häuten gewidmet, häuten – paramyth 1, das zweite der des Schlitzens, schlitzen – paramyth 2). Alle drei Quartetten beziehen sich direkt oder indirekt auf Gemälde, die diese Erfahrungen – teils durchaus drastisch –verarbeiten: Tizians „Die Schindung des Marsyas“, Matthias Grünewalds Kreuzigungsbild des Isenheimer Altar und reißen hat, weniger direkt als die beiden anderen Quartette, die Papst-Bilder von Francis Bacon als Bezugspunkt.
Die Bilder fungieren dabei als kreative Reibefläche einerseits und Begrenzung für die Materialerstellung andererseits und die umreißen somit den jeweiligen Ausgangspunktes der kompositorischen Arbeit. Ich gewinne dementsprechend musikalisches Material aus den in den Bildern angelegten Bewegungen (der Figuren, aber auch des Farbauftrags, der Linienführung), den inhärenten Empfindungen die durch das Sujet und durch die Art und Weise der Malerei (den Umgang mit Farbe, Raum, Strich) ausgelöst werden, und den ableitbaren Auslösern und Konsequenzen von Bildgegebenheiten (die Wunden werden durch Schnitte/schneiden herbeigeführt, Messer sind hart, scharf, der Tod ist die jeweilige Folge der Folterungen).
Grundlage für diese Art der Materialgewinnung ist die Tatsache der polymodalen Struktur unserer Wahrnehmung: Alles, was wir wahrnehmen – zb. Hören – ist mit Empfindungen der anderen Sinne gekoppelt. Helle, hohe, scharfe Klänge sind ein einfaches Beispiel dafür (die Schärfe des Schnittes wird in eine ebensolche des Klanglichen übertragen – wir alle können uns ein mögliches Klangbild vorstellen oder haben Erinnerungen an Klänge mit solchen Koppelungen an eine visuelle, gustative, gestische Erfahrung). Ebenso werden alle Bewegungen unseres Körpers, speziell solche, die stark gestische Qualitäten aufweisen (wie eben das Reißen) automatisch mit Sensationen auf den anderen Sinnesebenen verbunden (oder den Vorstellungen von solchen, die, wie uns die einschlägigen Forschungen zeigen, den „tatsächlichen“ gleichzusetzen sind). Eine schnelle Bewegung mit dem Arm aufwärts wird zb. eine Tonhöhenbewegung aufwärts als Vorstellung anregen, ein Zusammensinken eines Körpers eine leiser werdende Abwärtsbewegung (um nur auf ganz einfache Verbindungen einzugehen).
Diese inhärenten Vorstellungen sind gleichzeitig meine persönlichen als auch diejenigen von uns allen: Menschen scheinen Ereignisse zu Erlebnissen zu formen, in dem sie diese auf alle Ebenen der Erfahrung projizieren. Diese Form der Erfahrung ist antropologisch und kulturell geprägt. Diese Präfixiertheit ist für die Kunst die Aufforderung zur Bearbeitung. In der Kunst kann das Reißen zu einem anderen reißen werden, können Dimensionen des reißens erfahren werden, die die alltägliche Erfahrung nicht bieten kann. Diese Tiefeschärfe des Erlebens ist die Bindung der Kunst an unser Leben wie auch ihre Distanz dazu. Nur indem sie beides ist, gewinnt die Kunst die Brisanz der Bezugnahme und die Kraft der Transformation von alltäglicher Erfahrung.
Reißen gewinnt sein Material zuerst aus der namengebenden Geste transveriert auf die Idiomatik der Streichinstrumente: Den Bogen von der Saite reißen, auseinander-reißende Bewegungsformen, die Klangqualität, die mit dem Reißen verbunden ist (hohe Distortionsgrade, helle, scharfe Klanglichkeit), als einige Beispiele für die Ausgangspunkte für die Materialerstellung.
Reißen gewinnt auch Material aus den Bacon’schen Bildern: Die körperliche Empfindungen, die die aufgerissenen Münder der Päpste in der so speziellen Arbeit mit Farbe, Schlieren, scharfen Strichen etc. auslösen, die sich in die Armlehnen krallenden, den Stoff aufreißenden Hände, werden im Sinne der oben skizzierten polymodalen Struktur in Klangmaterialien und -strukturen verarbeiten.
Alle Materialien sind dann also mehrfach gebunden:
Aus einer bestimmten Sichtweise der Streichinstrumente geformt (die Streichinstrumente werden zu einer Art „Reiß-Instrument“, der Bogen reißt die Saite – was er im übrigen ja auch im Kleinen wirklich tut, nun ins Zentrum gerückt, vergrößert);
Aus der polymodalen Struktur unserer Wahrnehmung geformt – fokussiert auf das Ereignis des Reißens – die unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen zu Gestalten werden lässt (alles mit dem reißen verbundene wie Gesten, Schmerz, Empfindungen (aufgerissene Augen beim Erstaunen));
Aus den Bildern Bacon’s gewonnen und abgeleitet, die den Rahmen und die Grenzen der Materialarbeit des Stückes festlegen.
Die kompositorische Arbeit an den Materialien ist dann ebenso mehrfach gebunden: Alle Strukturebenen werden aus den idiomatischen Gegebenheiten der Instrumente, den Folgerungen aus der Polymodalität des Wahrnehmens und den Bildern abgeleitet. Transformative Energie wird dadurch maximiert, dass die Bindungen miteinander kollidieren, einander widersprechen. Synthesen, Isolationen, Explosionen, Auflösungen formen das Ausgangmaterial um und treiben es bis an möglichst entfernte Grenzen bzw. überschreiten diese. Das Umschlagen von Qualitäten ist dann zentrale kompositorische Kategorie: Schlägt das Reißen durch die Verlangsamung der Bewegung in ein Kratzen um, wird dieses Kratzen weiteren Einfluss auf den Verlauf der Klänge, der Gesten und der formalen Verläufe des Stückes nehmen. Explodieren und Zerstäuben die Reiß-Gesten ins nichts, in kleinste Partikel, wird dieses Umschlagen der Qualitäten vielfach gespiegelt den Raum des Stückes im weiteren bestimmen.
Im Komponieren als der Arbeit an den Materialien im umfassenden Sinn verstanden verlässt das Stück also die selbstgesteckten Grenzen und ist dennoch immer in Kontakt mit ihnen. Die Transformation wird, je weiter sie geht, umso mehr ins Zentrum der uns allen zugänglichen Anfangsvorstellungen zurückführen.
Reißen ist dann ganz bei sich und gleichzeitig frei von den genormten und kollektiv präfixierten Vorstellungen davon. Eine leibliche Geste, uns allen alltäglich unterlaufend, wird zur Möglichkeitsform des Empfindens im Hören.
CG 8/17