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Wien Modern: Präzision der Gewalt

Das Arditti-Quartett im Konzerthaus: ein Loblied auf die Komplexität.

VON WALTER WEIDRINGER (Die Presse 11/2022)

„Keine Angst, ist ja doch nur Musik“: Diese entspannte Haltung schlug Irvine Arditti sinngemäß in einem Pausengespräch mit dem Wien-Modern-Intendanten, Bernhard Günther, vor – als Antwort auf die Frage, ob denn die Werke dieses Abends mit dem Arditti-Quartett nun besonders komplex wären. Arditti hat recht, das hat sich im Laufe dieser Festival-Ausgabe mit dem Motto „Wenn alles so einfach wäre“ immer wieder erwiesen: Auch inmitten fallweise eklatanter Überforderung und Reizüberflutung sind tiefe, bleibende ästhetische Eindrücke möglich. Mit Komplexität gut umzugehen heißt also nicht, sie zu umgehen, sondern sich ihr einfach auszusetzen.

Obwohl man sich, wenn ein weiteres Wortspiel erlaubt ist, dabei manchmal ausgesetzt fühlen kann. In der dornig-felsigen Klanglandschaft von Brian Ferneyhoughs fünftem Quartett etwa: Verschiedene volatile Materialien und Schichten geraten dabei rasch in einen in- tensiven Widerstreit, an dem spontan zwar die Leidenschaft, kaum jedoch Argumente und Struktur nachzuvollziehen sind. Und dass Elliott Carter in seinem dritten Quartett die Stimmen in zwei fixe Duos teilt, die er vier bzw. sechs charakterlich verschiedene Einheiten spielen lässt, um diese dann kombinatorisch zu überlagern, muss glauben, wer die Partitur nicht eingehend analysiert hat. In beiden Fällen dachte man an Eduard Hanslick, der sich nach dem Kopfsatz von Brahms‘ Vierter fühlte, als sei er „von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt“ worden. Ein Merkmal dieses prononciert komplexen Stils scheint zu sein: Wenn jeden Gedanken bis zu drei verschiedene Kontrapunkte begleiten, dann ähnelt sich über kurz oder lang auch alles.

Zugänglicher: Clemens Gadenstätter

Man muss gar keinen bewussten Gegensatz zwischen diesen Zugängen und der keineswegs simplen Klangsprache Clemens Gadenstätters konstruieren, um dessen „Paramyth 1-3″ zugänglicher zu finden – und das trotz einer Dauer von 70 Minuten, vor der ein Teil des Publikums kapitulierte. Nach Häuten, Schlitzen und Reißen sind die drei Abschnitte benannt, die von Tizians „Schindung des Marsyas“, der Kreuzigung von Grünewalds Isenheimer Altar sowie von Francis Bacon inspiriert sind und durchaus so pittoresk gewaltsam und exzessiv tönen, wie die Titel nahelegen. Dabei faszinieren jedoch der penible Klang- und Erfindungsreichtum, die Feinheit der Abstufungen, die wechselnden Stimmungen, die Dramaturgie. Und natürlich Intensität und Ausdauer des Arditti-Quartetts: großer Jubel.